Alper Turfan erzählt in seiner flin-Kolumne „Serienreife“, wie es dazu kommt, dass Netflix es mit „Sweet Tooth“ wieder einmal geschafft hat, das Suchtareal seines Gehirns zu triggern, und warum das so überraschend ist.
Herzlichen Glückwunsch, Netflix, du hast es wieder mal geschafft, das Suchtareal meines Gehirns zu triggern. Ein Hirschgeweih lachte mich auf deiner Startseite an und ich erinnerte mich zurück an einen stylishen Comicladen in Wien, in dem mir der bärtige Besitzer von einer brandneuen Comicreihe vorschwärmte: „Sweet Tooth“.
Die menschliche Zivilisation sei dahingerafft worden von einer neuartigen Seuche und viele Neugeborene der wenigen Überlebenden seien absonderliche Kreuzungen aus Mensch und Tier. Dem jungen Gus beispielsweise wachse ein Geweih aus der Schädeldecke. Von seinem religiösen Vater tief im Wald aufgezogen, suche er nun nach seiner Mutter. Dabei treffe er nicht nur auf einen mysteriösen Verbündeten mit einer Schrotflinte, sondern entdecke auch seine eigentümliche Schwäche für Süßigkeiten.
Der Verkäufer hatte nicht nur meine Neugier geweckt, er hatte meine volle Aufmerksamkeit. Er schob einen besonders blutigen Punisher-Comic auf seinem Tresen zur Seite, als er mir die ersten beiden Bände quittierte und mir versicherte, dass Sweet Tooth viel mehr sei als fades Weltuntergangs-Blabla aus dem Tiefkühlregal. Viele Ausgaben und eine leere Brieftasche später konnte ich ihm nur zustimmen. Seine Kaufberatung war fabelhaft.
Fokus auf den Charakteren
Dementsprechend neugierig war ich also, als Netflix eine Serienumsetzung veröffentlichte, doch es kam, wie es kommen musste. Wieder einmal hat der größte Streaming-Dienst der Welt genau das getan, wofür er berüchtigt ist: Die Story des Comics wurde auf ihr Skelett heruntergebrochen, um zahme Unterhaltung für die ganze Familie zu schaffen. Blutige Action? Pustekuchen. Düstere Atmosphäre? Fehlanzeige. Ein Junge inmitten von Leichenbergen, der minderjährige Mädchen rettet und dabei aus seiner sektenartigen Erziehung ausbricht? Nicht in dieser Serie.
Danke, Netflix … dafür, dass ihr es trotzdem hinbekommen habt, dass Sweet Tooth ein Volltreffer geworden ist! Richtig gelesen: Die Serie wächst rasend schnell ans Herz. Wie das? Das Hauptaugenmerk der Serie liegt auf den liebenswürdigen Figuren und dem hervorragenden Schauspiel. Damit sei wieder einmal eine alte Binsenweisheit der Serienwelt bewiesen: Eine Serie steht und fällt mit ihren Figuren. Daher habe ich die erste Staffel verputzt wie Gus einen abgelaufenen Schokoriegel.
Dennoch würde mich interessieren, was der alte Comicladenbesitzer von der Serie hält. Sein kleines Geschäft hat unserer echten Pandemie die Stirn geboten. Vielleicht sollte ich ihm mal eine E-Mail schreiben. Wobei… nach zehn Jahren wäre das vielleicht ein bisschen eigenartig.