So schlimm ging es mir bei einer Serie selten. Ich lag nachts auf der Couch und entschied, den Fernseher ausschalten, damit ich den Inhalt dieser Serie nicht mit in meine Träume nehme. Zu unangenehm war das, was sich auf dem Bildschirm vor mir abspielte. Als abgebrühter (oder abgestumpfter?) Film- und Serienjunkie passiert mir das nicht gerade oft.
Autor: Alper K.Turfan
Die Serie „Rentierbaby“ zählt zu den Phänomenen, die aus dem Nichts kamen und für weltweites Aufsehen gesorgt haben. Damit führt die britische Serie den Netflix-Erfolgszug von Überraschungsserien wie „Dahmer“ oder „Squid Game“ fort. Der Reiz liegt vielleicht im widersprüchlichen Titel. Rentierbaby ist keine süße Tier-Doku. Thematisch könnte sie nicht weiter davon entfernt sein. Ihren Ursprung nahm die Serie als Ein-Mann-Show des Comedians Richard Gadd, der damit in London und Edinburgh auftrat. Darin spielt er eine leicht fiktionalisierte Version von sich selbst, verarbeitet aber ein traumatisches Kapitel seines Lebens.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Weil es mit der Comedy-Karriere nicht läuft, jobbt Donnie als Barkeeper. Eines Tages gibt er einer aufgelösten Frau namens Martha einen Tee aus und erweckt damit ihre Aufmerksamkeit. Sie stellt ihm nach und behauptet zwar hocherfolgreiche Anwältin zu sein, scheint aber genug Zeit zu haben, ihn den ganzen Tag zu verfolgen, in jedem seiner Comedy-Auftritte zu sitzen und seine Postfächer mit bizarren Sprachnachrichten und E-Mails zu bombardieren. Genau wie in der Serie erreichten Gadd in kürzester Zeit über 100 Seiten an Briefen, 350 Stunden an Sprachnachrichten und etwa 41.000 E-Mails. All diese Nachrichten ließ er in seine Serie einfließen und die meisten Figuren, die in der Serie vorkommen, basieren auf realen Persönlichkeiten aus seinem Leben. Gedreht wurde keine 80 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem sich alles ereignete.
Internet-Mob & Hobby-Detektive
Kein Wunder, dass die Serie so viele in ihren Bann gezogen hat. Auch ich konnte mich dem Ganzen nur schwer entziehen. Doch gerade aus einer medienethischen Perspektive ist die Serie hochbrisant. Nach der Veröffentlichung nahm das Übel seinen Lauf: Ein regelrechter Internet-Mob voller Hobby-Detektive begab sich unverzüglich auf die Suche nach den realen Vorbildern. Das Undenkbare geschah: Die echte Stalkerin scheint nun gefunden zu sein! Ihr Twitter/X-Account ist viele Jahre älter als die Serie und die Nachrichten gleichen denen aus der Show bis ins Detail mitsamt aller Rechtschreibfehler und Eigenheiten. Doch nicht nur das: Vergleicht man die Besitzerin des Accounts mit der Figur Martha stimmt nicht nur das Alter: Genau wie Martha ist sie Anwältin oder behauptet es zumindest. Auch die optischen Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen.
Sie ist überzeugt davon, die Inspiration für die Serie zu sein und gab der Daily Mail ein Interview. Das wahre Opfer sei sie selbst und nun nutze Gadd die Show, um sie weiterhin zu stalken. Nun wäge sie ab, rechtliche Schritte einzuleiten. Sie lebe in ständiger Angst und erhalte Morddrohungen, obwohl die Serie „Unsinn“ sei. Wer glaubt, dass die Serie auf wahren Begebenheiten basiere, sei „wirklich dumm“. Gadd verteidigte sich. Schon bei Erscheinen der Serie wurde der Serienschöpfer gefragt, ob er sich nicht davor fürchte, dass seine Stalkerin durch die Serie in sein Leben zurückkehren könnte. Er entgegnete, dass die Figur Martha bis zur „totalen Unkenntlichkeit“ anonymisiert worden sei. Außerdem sagte er, die Situation sei im realen Leben definitiv „aufgelöst“.
Viele vermuten daher, das bedeute, dass die echte Martha in Gewahrsam oder sogar tot sein muss und dass die Anwältin nur eine Nachahmerin sei. Der Twitter/X-Account müsse gehackt worden sein, so die Argumentation. So unwahrscheinlich das klingen mag und ob die Frau nun wirklich das Vorbild für die echte Martha ist oder nicht: Ist es nicht so oder so unverantwortlich, die potenzielle Stalkerin in die Öffentlichkeit zu zerren? Entweder verschafft man einer psychisch erkrankten Person Berühmtheitsstatus oder einer Schwindlerin, die Aufmerksamkeit sucht.
Im „Black Mirror“
Einer aber musste dem Fass den Boden ausschlagen: Der Fernsehstar Piers Morgan scheint keine moralischen Bedenken zu empfinden. Der Brite zerrte die angebliche Martha vor die Kameras und führte ein Interview, das auf seinem YouTube-Kanal erschien. Darin verhält sich die Person genau wie die Figur und verstrickt sich in Widersprüche und offensichtliche Lügen und Halbwahrheiten. Sie behauptet weiterhin, dass nichts aus der Serie der Wahrheit entspräche, gibt aber auch im nächsten Satz zu, nicht eine einzige Sekunde davon gesehen zu haben. Das Video erreichte nach nur drei Tagen über 10 Millionen Views.
Und ich frage mich, ob wir uns nicht inmitten einer mediendystopischen Episode von „Black Mirror“ befinden. Ganz starker Tobak. Die Serie behandelt nun einmal unangenehmen Themen, auch fernab von Stalking. Kein Wunder, dass bei vielen Berührungsängste aufkommen. Rentierbaby durchleuchtet schließlich verschiedene psychische Erkrankungen wie Depression bis hin zu einem furchtbaren Akt der sexuellen Gewalt, der in der Vergangenheit der Figur lauert.
So war es nicht gemeint
Genau wie beim Fall der Stalkerin begaben sich zahlreiche Fans der Serie auf die Suche nach dem potenziellen echten Täter. So geriet ein ehemaliger Kollege des Schöpfers ins Visier, weil er der Figur in der Serie ähnlichsieht. Er stritt aber sofort ab, Richard Gadd jemals belästigt zu haben, und geht nun rechtlich gegen alle vor, die ihn mit dem sexuellen Straftäter aus der Serie in Verbindung bringen. Auch Richard Gadd zeigte sich entsetzt, verneinte jegliche Anschuldigungen und nahm seinen ehemaligen Kollegen in Schutz. Doch Richard Gadd selbst steht ebenfalls in der Kritik. Einige werfen ihm vor, aus dem psychischen Leiden einer anderen Person Profit zu schlagen und eine geschmacklose Serie erschaffen zu haben, die einer Stalkerin 15 Minutes of Fame verschaffe. Die Serie romantisiere Traumata. Den Menschen könne man nur schwer vorwerfen, dass die Serie ihr detektivisches Interesse geweckt habe. Gadd aber sagt, all das sei nicht der Sinn der Serie.
Aber war es nicht klar, dass all das passieren würde? War Richard Gadd noch nie im Internet?
Die guten Seiten
Doch sehe ich in der Serie auch eine Menge Gutes. Denn auf der anderen Seite ermutigt die Serie Opfer von traumatischen Erfahrungen aktiv zu werden und sich Hilfe zu suchen. Zuwachs erhielt beispielsweise die Hilfsorganisation „We are Survivors“, die Männer und nicht-binäre Menschen unterstützt, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Seit Veröffentlichung der Serie hätten sich 80 Prozent mehr Männer bei der Organisation gemeldet. We Are Survivors sprach der Show zu: Sie gäbe vielen Männern das Selbstbewusstsein, ihr Schweigen zu brechen. Am Ende der Folgen wird auch die hauseigene Ressourcen-Webseite von Netflix eingeblendet, auf der man zu weiteren Hilfsorganisationen weitergeleitet wird: www.wannatalkaboutit.com
Faszination und Überforderung
Selten hat mich eine Serie so fasziniert und gleichzeitig emotional und moralisch so überfordert. Entgegen allen Bedenken ist die Serie reif, bitter und schonungslos ehrlich. Es ist nicht einfach, diese Serie kritisch zu beäugen, wenn sie so nah in der Realität des Schöpfers verwurzelt ist. Rentierbaby ist traurig, mitreißend und gruselig. Richard Gatt ist ein hochtalentierter Storyteller. Nur kann ich mich kaum in ihn hineinversetzen und mir ausmalen, wie es sein muss, all diese Situation ein zweites Mal zu durchleben.
Vielleicht sollte sich jeder selbst ein Bild davon machen und Rentierbaby auf Netflix eine Chance geben.
Bilder: Alper K.Turfan